Polar City Blues (23 page)

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Authors: Katharine Kerr

BOOK: Polar City Blues
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»Gott wird ihn kaufen, ja?«

»Weiß ich nicht! Hab' nicht gefragt. Muß erst zum Tempel gehen. Ich werde heute abend gehen, gegen Sonnenuntergang. Also müssen wir ihm auch Essen geben.«

»Gut. Da hast du wohl recht.«

»Klar. Habe die letzte Flasche Whisky beim Wächter eingetauscht. Sicher wird Gott uns mehr geben.«

Mulligan wundert sich über den merkwürdigen Korb, den wilder Mann und alter Veteran tragen; mehr eine Kiste aus dünnem Kunststoff, mit transparenten Trageschlaufen an den Seiten. Mehrfach ist dieses rätselhafte Wort NASA aufgedruckt. Ihm wird jetzt klar, daß die nie enden wollenden Gerüchte, daß unter dem Rattennest noch das Hauptquartier der alten Kolonie existiere, zutreffend sind, und daß er sich in einem Teil dieses Komplexes befindet. Einige der Slumbewohner mußten über das Vorratslager gestolpert sein, in dem Tausende von Rationen der alten Raumfahrer lagerten -

gefriergetrocknet, bestrahlt und vakuumverpackt, haltbar für die halbe Ewigkeit. So konnten sie also die magere Jagdbeute, die Ernte aus den kleinen Gärten, von denen Carol gesprochen hatte, aufbessern. John kommt herüber zu Mulligan. Wie ein Baum ragt er neben ihm auf und gibt ihm ganz beiläufig einen nicht besonders böse gemeinten Tritt.

»Sei schön brav, Weißer, oder Gott wird dir die Leber eigenhändig aus dem Leib reißen.«

»Ja, Sir, sicher. Ganz wie Sie meinen.«

Mit einem zufriedenen Nicken entfernt John sich wieder. Er kniet vor die Kiste, um alter Veteran beim Öffnen zu helfen. Nun sind sie alle hier versammelt, und Mulligan erkennt sie wieder. Es sind die, die er gestern im Traum gesehen hat, die Gestalten, die ihn töten wollten. Vermutlich hat er etwas von dem Mord am Insektenmann aufgefangen, so wie er das sonst bei seiner Arbeit für die Polizei zu tun pflegt. Er schüttelt sich bei dem Gedanken. Ob es ratsam ist, diesen John Hancock einmal anzuzapfen?

Mulligan versucht alle Energie, die ihm noch geblieben ist, zu bündeln und tastet vorsichtig, ganz behutsam nach dem Geist dieses Mannes. Nichts. Nicht ein Hinweis auf eine winzige telepathische Antenne. Sein Magen krampft, als er die beiden einzigen möglichen Schlüsse daraus zieht: Entweder hat tatsächlich Gott zu John Hancock gesprochen, oder dieser Assassine besitzt die unglaubliche Fähigkeit, mit Wesen ohne Psi-Kräfte Kontakt aufzunehmen. Bei einer Wette würde er auf das letztere setzen, auch wenn diese Aussicht noch weit erschreckender als die erste Möglichkeit ist. Sollte die Allianz bei der Nutzung paranormaler Fähigkeiten tatsächlich so weit fortgeschritten sein, dann konnten sie ihre Feinde dazu bringen, nichts anderes mehr zu wollen, als zu ihnen überzulaufen. Und dabei würden sie noch denken, es wäre ihr eigener Entschluß. Mulligan schwört feierlich, daß er, wie aussichtslos es auch scheint, so lange am Leben bleiben wird, bis er diese Neuigkeit an Nunks übermittelt hat koste es, was es wolle.

Nunks' Spezies kennt das Weinen nicht, doch gibt es auch bei ihr eine Verhaltensweise, mit der man Kummer äußern kann: Es ist ein immerzu wiederholtes Fäusteballen, das ihnen nicht weniger Erleichterung bringt als einem Men-200

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sehen das Weinen. Als Nunks wieder beim Gleiter angekommen ist, setzt er sich in den Staub und tut genau das. Wie weit er auch seinen Geist aussendet, wie stark er seine Energie bündelt, um kleine Bereiche abzutasten - er kann Mulligan nicht finden. Er ist untröstlich, und außerdem fühlt er sich schuldig. Er hat ihn doch hierhergeschleppt, er hat zugelassen, daß sie Sam Bailey nicht mitgenommen haben. Und er wollte nicht, daß Mulligan eine Waffe trug. Er überlegt, ob er die Arbeiter im Krater um Hilfe bitten soll, aber er ist ohne ein Psi-Talent, das für ihn spricht, vollkommen hilflos. Und außerdem hat Mulligan die Schlüssel des Gleiters in der Tasche.

Dann wird ihm bewußt, daß er zu keiner Zeit etwas von Mulligans Tod gespürt hat. Sie sind eng genug verbunden, da ist er sicher, um den Tod des anderen unmittelbar zu spüren: diesen an den Rand des Irrsinns treibenden Schmerz, der mit der Auflösung des so vertrauten Bewußtseins verbunden ist. Er steht auf/hört sich um, öffnet seinen Geist; er ist allein, nichts bewegt sich im Gestrüpp ringsum, nicht einmal ein Tier, ganz zu schweigen von einem Psi-Wesen. Über ihm flackern die Nordlichter schon viel blasser, der Himmel färbt sich allmählich schmutzig-rosa; es beginnt zu dämmern. Nunks geht zurück in den Schutz der Baumgruppe und setzt sich wieder. Er wird jeden Zentimeter des Rattennestes abtasten, bis er ein Psi-Signal von Mulligan findet. Wenn er seine Energie fokussiert und nur wenige Quadratmer auf einmal abtastet, kann er auch noch sehr schwache Signale wahrnehmen.

Aber wie sehr er sich auch konzentriert, er kann nichts empfangen - und schon gar nicht die Turbulenzen, die ein gewaltsamer Tod auslösen würde.

Es gibt viele Bewohner des Basars, Menschen und andere Spezies, die dem Bürgermeister von Porttown gern einen Gefallen tun, doch ist die Aussicht auf eine Belohnung nicht gerade hinderlich, um auch den Eifer der übrigen anzusta-202

cheln. Die Neuigkeit macht in Windeseile die Runde: Richie läßt sich diesen Fremden etwas kosten, angefangen bei zehn Dollar für den Hinweis, wann und wo man ihn gesehen hat, bis hin zu zehntausend für den Kerl selber. Für zehn Dollar konnte man ins feinste Restaurant von Polar City essen gehen, warum sollte man da nicht sein Gedächtnis ein bißchen anstrengen. Und daß es Richie ernst meint, kann man daran sehen, daß er seinen Leibwächtern ganz offensichtlich verboten hat, den Informanten, die vorsprechen wollen, ein Schmiergeld abzuknöpfen.

Zur selben Zeit, als Sam den Bentley über die Stadtgrenzen hinaus zum Krater fährt, kommt ein älterer Lizzie, der am Rand des Basars ein Drugstore betreibt, zu Richie. Er ist der erste, der einen handfesten Hinweis geben kann. Die Wachen führen ihn ohne Umstände ins Büro, ohne auch nur einen Schein aus ihm herauszupressen, und Richie behandelt ihn wie ein gerngesehenen Gast: lädt ihn ein, sich auf ein niedriges Kissen zu setzen, wie es Lizzies mögen, und bietet ihm auf einem silbernen Tablett Sandwürmer in Schokolade an. Richie gefällt sich darin, seine Besucher mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln - nicht ohne Selbstironie. Denn er, der ein halbes Leben lang sich nach Kräften bemüht hatte, Kunden zufriedenzustellen, konnte heute jeden, der ihn auch nur ein wenig ärgerte, in seinem Blut schwimmen lassen.

»Es war heute abend, Sir, gerade bei Sonnenuntergang, ich wollte eben den Laden aufmachen, da stand dieser Weiße vor der Tür. >Es ist dringend, kann ich nicht reinkommen<, sagt er, und ich sage, warum denn, ich würde in zehn Minuten sowieso aufmachen. >Haben Sie doch ein Herz<, sagt er,

>ich komme sonst zu spät zu einer Verabredung, und es wird sich für Sie lohnen.< Also laß ich ihn herein. Er kaufte eine Menge Sprays, Cremes, Puder - alles, was ich hatte, wenn es nur für die Haut war. Gegen Juckreiz, Ekzeme, Infektionen, Schuppenflechte - nennen Sie irgend etwas, der Kerl kaufte ein Mittel dagegen. >Ach du meine

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Güte<, sage ich zu ihm, >wenn es so um sie steht, gehen Sie besser zu Dr. Carol.< Und er lacht und sagt: >Wo denken Sie hin, das Zeug ist nicht für mich, ich arbeite fürs Fernsehen, ] und wir machen eine Sendung über rezeptfreie Medikamente.< Und er zeigt mir seinen Ausweis, er ist tatsächlich einer von denen. Nun, Sir, da bin ich ganz schön erschrocken, habe überlegt, ob sie vielleicht behaupten werden, daß ich schlechtes Zeug verkaufe, deshalb habe ich die Geschichte nicht vergessen. Und nun kommt mein Junge nach Hause und erzählt mir, wen Sie suchen. Der Mann, es war mir zuerst nicht aufgefallen, aber irgendwie roch er, daß ich ans Essen denken mußte.«

»Essig, hab' ich recht?« Richie schenkt ihm ein Lächeln.

»Genau das, Sir. Er roch nach Essig.«

»Hai, bring das Terminal her und schalte auf Aufnahme. Mein Freund, Sie sind eine große Hilfe für uns. Wenn Sie mir jetzt alles über diesen Kerl sagen, an das Sie sich erinnern können, dann werden wir es in den Computer eingeben.«

Der Drugstorebesitzer nimmt rasch noch einen Wurm, dann schließt er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Und schon schnurrt er Detail um Detail herunter. Als er geht, ist er zweihundert Dollar reicher.

»Ich kann den Gleiter jetzt orten«, sagt Sam plötzlich. »Maria, kannst du irgend etwas empfangen?«

»Nunks muß ganz in der Nähe sein, bei diesen Bäumen wahrscheinlich.«

Ganz weich bringt Sam den Bentley herunter. Lacey beugt sich vor, späht aus dem Fenster und kann unter den Dornenbäumen ihre alte blaue Kiste erkennen. Die Sonne hat sich schon zur Hälfte über den Horizont geschoben, aus dem Rosa des Himmels ist ein giftiges Orange geworden. Inzwischen ist Lacey so müde, daß ihre Augen schmerzen und sie auch den einfachsten Gedanken nicht mehr zu Ende bringt. Jetzt hätte sie ein paar von Bates' Hyperpillen gebraucht.

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Während Sam auf der Böschung aufsetzt, die das Ende der planierten Trasse markiert, denkt sie mit Schrecken, daß sie jetzt aussteigen muß. Allein die Vorstellung, sich zu bewegen, ist unerträglich.

Aber kaum steht der Bentley, ist sie als erste draußen. Während die andern noch mit den Sicherheitsgurten beschäftigt sind, läuft sie schon hinüber zu dem blauen Gleiter.

»Nunksü Wir sind es, hab keine Angst!!« »Lacey, verdammt!« Sam ruft hinter ihr her. »Sei vorsichtig!«

Er hat recht, sie bleibt stehen und zieht ihre Laserpistole. Blinzelnd in dem grellen Licht besieht sie sich den Gleiter, geht vorsichtig darum herum. Er ist leer. Mit dem Laser in der Hand kommt Sam zu ihr gelaufen.

»Menschenskind, hier muß es doch von diesen Verrückten wimmeln.«

»Ja, du hast ja recht. Entschuldige. Es ist nur die verdammte Müdigkeit.«

»Wenn wir zu Hause sind, wirst du erst mal schlafen.« Zwar will sie antworten, er solle gefälligst die Klappe halten, aber ihr fehlt einfach die Kraft dazu. Dann hören sie etwas im Dickicht, es kommt heran, bahnt sich krachend und mit ärgerlichem Grunzen einen Weg durch das Gestrüpp.

»Es ist Nunks!« ruft Maria. »Nicht schießen!« Aufgeregt schwenkt er seine riesigen Hände, als er aus dem Unterholz stampft. Sein Pelz ist an einigen Stellen kahlgerupft, der Overall über und über zerrissen. Maria läuft zu ihm, und er legt einen Arm um sie. So fest drückt er sie an sich, daß sie nach Luft schnappen muß. »Nunks«, ruft Lacey. »Ist Mulligan noch am Leben?« Er hebt die Hände, er weiß es nicht. Traurig schüttelt er den Kopf.

»Ich kann nur verstehen, daß er verzweifelt ist und daß er Mulligan viel zu verdanken hat«, sagt Maria. »Ach, warte,

Nunks - Mulligan hat dir das Leben gerettet? Ist es das, was j du sagen willst?«

Nunks nickt und läßt sich zu Boden sinken, das Gesicht in ] den Händen vergraben. Man muß nicht über Psi-Kräfte ver- i fügen, um seinen übergroßen Kummer mitempfinden zu können. Einen Moment lang wehrt sich Lacey verzweifelt dagegen, überhaupt irgend etwas zur Kenntnis zu nehmen. Mulligan
mußte
es gutgehen, es ist einfach nicht wahr, daß sie hier draußen beim Rattennest sind. Sicher ist sie so müde, daß sie die ganze Situation mißversteht. Dann plötzlich fühlt sie Wut aufsteigen, heiß überkommt es sie. Siel spürt, wie Sam sie sorgenvoll mustert.

»Wenn sie Mulligan getötet haben, dann werden sie dafür bezahlen«, stößt sie hervor. »Das hätten sie sich nicht antun sollen. Aber zur Sache ... Rick, du nimmst meinen Gleiter und führst Nunks und Maria nach Hause. Von dort rufst du die Polizei an. Keinesfalls vom Gleiter aus, das kann zu leicht abgehört werden. Und du sagst Buddy, daß er Bates und niemand anders anrufen soll, klar?«

»Verstanden, Sir!«

»Gut. Sam, du kommst mit mir. Wir werden das Gelände aus der Luft absuchen und sehen, was wir tun können, bis die Polizei da ist.«

Maria hat sich um den zusammengekauerten Nunks gekümmert. Als er wieder aufsteht, greift er nach Laceys Arm, dann zeigt er mit der anderen Hand erst auf sich, dann auf den Bentley.

»Du willst mit uns kommen? Aber ja, klar. Hätte ich selber draufkommen können. Wir haben ja keine Ahnung, wie wir ihn finden sollen.« Lacey reibt sich die Augen, sie brennen. Daß sie sie überhaupt noch offenhalten kann ... »Rick, du läßt niemanden in Marias Nähe!«

»Jawohl, Sir!« Dann zögerte er. »Äh ..., Sir? Haben Sie die Schlüssel für den Gleiter?«

»Verdammt!« Lacey sucht in ihren Taschen, sie findet den Schlüssel und wirft ihn Rick zu. »Dieser verdammte Mulli-206

gan! Man könnte zu Hause sein und gemütlich im Bett liegen.«

Zwei Stunden lang, während die Sonne immer greller und heißer wird, kreuzen sie über dem Rattennest. Die Klimaanlage des Bentley müht sich, um gegen die Hitze anzukommen. Mal steigen sie auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, mal gehen sie tief hinunter, um aus nächster Nähe jeden einzelnen Fleck Schatten zu inspizieren, der groß genug ist, einem Mann wie Mulligan Schutz vor der Sonne zu bieten. Nirgends auch nur eine Bewegung, nicht einmal eine Ratte, die im Unrat wühlt.

Obwohl sie sich vor den anderen nichts anmerken läßt, macht sich Lacey mehr und mehr Sorgen: Sollte Mulligan trotz aller Befürchtungen noch am Leben sein, dann konnte er im Laufe des Tags hier draußen leicht an einem Hitzschlag sterben. Schließlich zieht Sam die Maschine in die Höhe und nimmt Kurs in Richtung der Stadt.

»Lacey, amiga, das ist jetzt Sache der Polizei. Lassen wir's lieber, du mußt erst mal schlafen. Ich übrigens auch. Wir tun Mulligan keinen Gefallen, wenn wir hier den Bentley deines Bruders zu Schrott fahren.«

Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren hat Lacey das Bedürfnis zu weinen. Aber sie tut es nicht.

»Ja, du hast recht. Fahren wir zurück. Möchte nur wissen, wo diese verdammten Bullen bleiben. Ob Rick Bates nicht erreicht hat? Ich glaube, ich werde es von hier mal versuchen. Himmel! wenn er noch wach ist.«

»Okay. Aber hör mal, wenn wir zu Hause sind, mußt du sofort etwas gegen Buddy unternehmen.

Mach den Kasten mal auf und sieh nach vielleicht kannst du die defekten Untereinheiten erst einmal stillegen, bevor er wieder durchdreht.«

Obwohl Sam recht hat, ist es für Lacey ein scheußlicher Gedanke. Eines der ständigen Probleme mit der Maschinenintelligenz war und ihre Erfinder waren darauf nicht im mindesten vorbereitet -, daß die Computer mit der Zeit so

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etwas wie Persönlichkeit entwickelten. Zwar verließen sie die Fabrik als reine Maschinen, nichts weiter eine Ansammlung von Schaltkreisen, aber sie werteten die Daten, die man ihnen eingab, auf ihre Art aus, stellten neue Zusammenhänge her, entwickelten eigene Programme für den internen Gebrauch, bis sie schließlich denkende
und
fühlende Wesen zumindest täuschend imitieren konnten.

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