Polar City Blues (5 page)

Read Polar City Blues Online

Authors: Katharine Kerr

BOOK: Polar City Blues
12.79Mb size Format: txt, pdf, ePub

38

39

meint, daß der Mörder vielleicht in der Botschaft der Allianz zu finden ist und daß er diplomatische Immunität genießt.

»Ich freue mich, das zu hören, Exzellenz. Was für einen Grund könnte der junge Ka Gren denn gehabt haben, in die Stadt zu gehen, ohne jemandem etwas zu sagen?«

»Ich kenne den Grund nicht, aber ich habe zwei Vermutungen. Erstens, er könnte sich in der Stadt mit Spielern getroffen haben. Wie Sie sicher nur zu gut wissen, sind unsere jungen Leute in die Kartenspiele der Menschen geradezu vernarrt. Zweitens, und das ist etwas schwieriger zu erklären, könnte es mit Ka Grens Diensteifer zu tun haben. Er war für uns so unersetzlich, weil er, wie man es in Ihrer Sprache sagt, ein Draufgänger war und stets bereit, Aufgaben zu übernehmen, die nicht zu seinen unmittelbaren Pflichten gehörten. Natürlich haben wir hier in der Botschaft die Aufgabe, gute Beziehungen mit Ihrer bewundernswerten und ruhmreichen Republik herzustellen und aufrechtzuerhalten.«

»Natürlich.«

Der Carli zögert, die Ohren halb gesenkt, als sei er unsicher, ob Bates ihn überhaupt verstehen könne.

Weil Bates nicht sicher ist, ob er die Andeutung verstanden hat, beschließt er, eine äußerst versteckte Andeutung seinerseits anzubringen.

»Natürlich gibt es noch andere souveräne Staaten, die weniger bewundernswert sind.«

»Natürlich.«

Wieder zögert Ka Pral. Es ist zu offensichtlich, daß er etwas zu verstehen geben möchte, ohne es - um Himmels willen! - auszusprechen.

»Haben wir Dinge zweifelhafter Natur in unserer Mitte«, sagte Bates, »dann ist es wichtig, daß wir wachsam und jederzeit zum Handeln bereit sind.«

Ka Pral seufzt erleichtert auf.

»Das ist nur zu wahr, Mr. Bates, und wunderschön gesagt.«

Verflucht, der Kleine hatte wohl auf eigene Faust Spionage bei der Allianz betrieben. War es das?

Dann war es ein Tanz auf dem Vulkan.

Von der Tür her hört man ein tiefes Pfeifen, das war bei den Carlis ein Signal wie das Anklopfen bei den Menschen. Ka Prals Ohren richten sich auf und werden spitz vor Ärger.

»Möchten Sie bitte meine Unhöflichkeit und die meiner Mitarbeiter entschuldigen, Mr. Bates?«

»Selbstverständlich, Euer Exzellenz. Ich weiß nichts von einer Unhöflichkeit.«

Mit raschelnder Robe durchquert der Protokollchef den Raum und stößt die Tür auf. So erschrocken, daß sie nur stammeln kann, bringt die junge Dienerin ein paar Sätze auf Carli hervor. Der Protokollchef hebt überrascht die Hände.

»Chief Bates, es gibt Neuigkeiten.« Mit einem Fingerschnipsen entläßt er die Dienerin und schließt die Tür. »Ein Botschaftsangehöriger, ein Koch namens Gri Bronno, ist verschwunden, und mit ihm einer unserer Gleiter.«

Bates wuchtet sich vom Diwan in die Höhe und eilt herbei.

»Wenn Sie mir eine Beschreibung der Maschine geben können, Euer Exzellenz, dann werde ich sofort meine Leute alarmieren.«

Es ist zwei Stunden nach Sonnenuntergang, und Little Joe Walker muß sich nun daran machen, seinen zerbeulten alten Gleiter im Gestrüpp zu verstecken, etwa fünfzehn Kilometer südöstlich von Polar City. Obwohl er nun einige Kilometer zu gehen hat und diese Art der Fortbewegung von Herzen verabscheut - die Straße ist unwiderruflich zu Ende, denn hier beginnt das Gebiet, das man für das Rehydrierungsprojekt reserviert hat. Ärgerlich vor sich hin murmelnd ist er
40

41

ausgestiegen und hat die Kabinentür verschlossen. Jetzt öffnet er den Kofferraum und holt einen lichtabsorbierenden Tarnüberzug hervor. Es ist ein Ausrüstungsgegenstand, den man eigentlich bei einem Zivilisten nicht zu finden erwartet. Doch Little Joe hat so manches Stück fortschrittlichster Technik in seinem Fundus, das für gewöhnliche Bürger auf Hagar eigentlich nicht zu haben ist. Zwar wird es von den Generalstäben in schöner Regelmäßigkeit dementiert, doch gibt es eine Menge Offiziere und einfache Soldaten bei Flotte und Bodentruppen, die reichlich Rauschgift konsumieren und dafür alles aus den Arsenalen verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist.

Nachdem er den Tarnüberzug über den Gleiter ausgebreitet hat, tritt Little Joe einige Schritte zurück, um das Ergebnis seiner Mühe zu betrachten. Aus zwei Meter Entfernung scheinen sich die Konturen der Maschine aufzulösen und mit den unregelmäßigen Schattenfiguren unter den Dornenbäumen zu verschmelzen; vier Meter, und man hätte geschworen, daß es hier nicht einmal etwas gab, das man hätte tarnen können. Little Joe erlaubt sich ein kleines Lächeln. Der Tarnüberzug hat ihn ein Kilo seines besten Stoffs gekostet, aber er war es wert; und er schreibt sich ins Gedächtnis, daß er bei nächster Gelegenheit Ismail Inballah, den Gehilfen des Quartiermeisters, fragen muß, ob er ihm nicht eine superleichte Jacke aus dem gleichen Material besorgen könne. In Little Joes Gewerbe wäre ein solches Ding äußerst nützlich.

Der Gleiter lag hier sicher. Little Joe läßt die Straße hinter sich. Er findet einen schmalen Pfad durch das Gestrüpp, kaum breit genug für seine wuchtigen Schultern. Dieser stachlige Dschungel ist die einzige natürliche Vegetation auf diesem Teil des Planeten: Dornenbäume, Hakenbüsche, dazu eine niedrig wachsende Schlingpflanze, die man Schmutzrebe nennt; den Boden bedeckt das allgegenwärtige >Gras< mit seinen fleischigen Blättern, die beim Auftreten häßlich knirschen. Und das alles ist verwoben zu einem fast

undurchdringlichen Geflecht, das die Einschnitte und Gräben auskleidet, dunkle Streifen im Gelände, die das Vorhandensein von Wasser tief unter den sonnenverbrannten Hügeln von Hagar verraten. In dem Dornendschungel leben hauptsächlich Insekten, einige wenige Pseudoreptilien und hier und da flugfähige Warmblüter. Kleine Nagetiere nicht zu vergessen, die den grauen Hausratten auf der guten alten Erde so verblüffend ähneln, daß niemand sie anders als >Ratten< nennt und die genaue Bezeichnung den Wissenschaftlern überläßt. Die Fossilienfunde auf Hagar belegten, daß vor langer Zeit die übliche Artenvielfalt hier gedieh, doch starben die meisten Arten aus, als der Planet den größten Teil seines Wassers bei jener rätselhaften Katastrophe eine Million Jahre zuvor verlor. Die vergleichsweise wenigen überlebenden Spezies waren nun kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, sie waren auch nur vordergründig an den jetzigen Zustand des Planeten angepaßt. Nur anhand von Fossilien war eine zusammenhängende Entwicklungslinie herauszufinden.

Der Pfad führt am Rand eines riesigen Kraters entlang, der vor der Katastrophe ein See gewesen war -

und der, wenn man Erfolg haben sollte, eines gar nicht so fernen Tages wieder zum See werden würde. Dort in der Mitte des Kraters, wo die blauen Flutlichtstrahler über den Arbeitern schweben, kann Little Joe sehen, wie die Schutzhülle von den riesigen Brocken Kometeneis geschnitten wird, die man im Orbit eingefangen und mit Gravitationsgeneratoren zu Boden gebracht hat. Man läßt sie hier unten einfach verdunsten oder das Schmelzwasser in den Untergrund eindringen; den Ingenieuren ist das gleich, solange das kostbare Wasser in den Kreislauf des Planeten gelangt. Nach siebenundvierzig mühevollen Jahren scheint das Projekt erste Erfolge zu zeigen: Im letzten Winter hat es doch tatsächlich in der Polarregion geregnet, zum ersten Mal seit einer Million Jahren. Little Joe war zwar wie alle anderen nach draußen getreten, feierlich stand man in dem kurzen Niesel-42

43

regen, als wäre es Allahs Segen, der da vom Himmel fiel doch war ihm gar nicht wohl in seiner Haut.

Er war in Polar City geboren und aufgewachsen, und daß Wasser einfach vom Himmel fiel, das irritierte ihn: Das war die pure Verschwendung, und außerdem war es absolut unnatürlich.

Einen halben Kilometer voraus folgt der schmale Weg nicht weiter dem Kraterrand, sondern wendet sich jäh hügelabwärts. Hier ist das Gestrüpp besonders dicht, und es geht nun in Richtung des langen, staubigen Tals, das man damals für die erste Kolonie auf diesem Planeten ausgewählt hatte. Die alten Bauten aus Betonplatten und geschäumten Kunststoff sind halb zerfallen, eine Ruinenwelt von mehreren tausend Hektar, in deren Gassen sich Schrott und Abfall aus hundert Jahren angehäuft haben. Während Little Joe bergab geht, kann er schwache Lichtpünktchen sehen, die sich durch das

>Rattennest< bewegen; so hat man diese Gegend getauft. Hier leben Angehörige der verschiedensten Spezies zusammen, vielleicht hundert alles in allem. Aus Türen verschrotteter Gleiter und herumliegenden Kunststoffplatten haben sie sich Hütten gebaut, oder sie hausen in Erdhöhlen, die sie mit allerlei Fundstücken aus der nahen Stadt eingerichtet haben. Die meisten sind schlicht und einfach verrückt, einige wenige verstecken sich hier auch vor der Polizei. Bevor er das Rattennest erreicht, macht Little Joe die Laserpistole im Schulterhalfter schußbereit. Obwohl die Slumbewohner ihn kennen, weil er regelmäßig hier zu tun hat, kann es nicht schaden, auf der Hut zu sein.

Doch als es Ärger gibt, liegt es keineswegs an den Verrückten hier. Er hat fast die ersten Ruinen des Rattennests erreicht, als silbernes Licht den Himmel erhellt; starke Scheinwerfer streichen über das Gelände und verfehlen ihn nur knapp. Jetzt hört er auch das heulende Geräusch von zwei Polizeigleitern, die tief heruntergehen und das Tal absuchen. Mit einem häßlichen Fluch läuft Little Joe los, duckt sich, so tief er kann, und rennt im Zickzackkurs auf die Hütten zu. Von dort hört man Schreie und wütendes

Gebrüll, gelegentlich auch ein Scheppern, wenn einer der Bewohner mit einem Stein einen Gleiter trifft. Er atmet jetzt stoßweise, keucht, die Beine schmerzen. Er ist verzweifelt: Wenn sie nach
ihm
suchten - heute könnten sie Glück haben.

Ein Lichtstrahl erfaßt ihn, verharrt und huscht dann suchend weiter. Die Gleiter fliegen eine Kurve, steigen auf und kommen im Tiefflug wieder zurück. Sie nehmen Kurs auf das andere Ende der Ruinenstadt. Doch während sie vorbeisausen, beginnen sie zu feuern - Plastikgeschosse, die angeblich niemanden töten können, sondern nur betäuben, aber Little Joe mißtraut dieser Theorie ganz und gar.

Deshalb nimmt er seine letzten Kräfte zusammen und spurtet hinüber zu einem hohen Stapel aus Plastikabfällen. Doch plötzlich spürt er, daß der Boden unter seinen Füßen nachgibt; mit einem Schrei will er anhalten, aber es ist zu spät. Mit Gepolter gibt der Boden nach, eine Höhle tut sich unter ihm auf, so daß er gut drei Meter inmitten eines Bergs von Abfall hinunterrutscht. Fluchend rollt er sich zur Seite, noch rechtzeitig genug, um nicht von den schweren Schrotteilen einer Klimaanlage erschlagen zu werden.

Einige Minuten liegt er einfach da und schnappt nach Luft. Er befühlt seine Knochen, sie sind noch heil. Sicher hat er einige üble Prellungen und Blutergüsse abbekommen, aber im großen und ganzen scheint er unversehrt zu sein. Er steht auf. Über sich kann er die Farbenpracht des Nachthimmels erkennen, sie dringt durch ein Loch vielleicht drei Meter über dem Boden, wenn nicht mehr. Weil Little Joe genau zwei Meter groß ist, bleibt da ein nicht unbeträchtlicher Rest. Er muß sich etwas einfallen lassen. Er findet seine kleine Taschenlampe, stellt einen schmalen Lichtstrahl ein, dann tastet er damit den Rand der Öffnung ab, durch die er eingebrochen ist. In dem Unrat kann er einige verrottete Holzplanken erkennen; offensichtlich hat jemand diese Höhle vor langer Zeit mit Brettern überdacht, sie muß aber schon lange aufgegeben worden sein.

44

45

Er läßt den Strahl der Taschenlampe langsam und stetig über seine Umgebung gleiten; es stinkt hier als hätte jemand versucht, eine ganze Reihe der übelsten Gerüche an einem Ort zu versammeln. Zum Glück gibt es eine Unmenge Schrott und Gerumpel in diesem Loch. Neben dem Kasten der Klimaanlage findet er mehrere dicke Bruchstücke von Plastbetonplatten, eine stabile Kiste aus Schaumstoff und allerlei Steinbrocken und anderes, das er auftürmen kann. So müßte er aus seinem Gefängnis herausklettern können. Er sagt sich, daß eine Pyramide wohl das stabilste wäre, und sucht nach einem kleinen Absatz oder einer Stufe in der Wand, wo er die Taschenlampe deponieren kann. In einer Ecke entdeckt er einen glänzenden Gegenstand. Als er ihn aufhebt, huschen raschelnd Ratten davon. Ihn schaudert.

Sein Fund entpuppt sich als ein poliertes, metallenes Kästchen von grauer Farbe. Auf einer Seite sind Zeichen einer fremdartigen Schrift eingeprägt; an einer Schmalseite ist ein dünner Schlitz. Weil Little Joe so etwas noch nie gesehen hat, läßt er es unter sein Hemd gleiten. Es ist die reine Neugier, daß er es an sich nimmt. Dann findet er auch eine geeignete Stelle für seine Taschenlampe, nun auf breiten Strahl eingestellt, und kann anfangen, seine Pyramide zu bauen. Der erste Meter aus den Plastbetonplatten und der Schaumstoffkiste, die er der Stabilität halber mit Abfall füllt, ist einfach. Als er hinaufsteigt, kann er den Rand der Grubenöffnung erreichen, doch zerbrechen die morschen Planken, sobald man kräftig zupackt. Er steigt wieder von der Pyramide, holt den Kasten der Klimaanlage und benutzt ihn als Rammbock, um die wachsweichen Holzreste loszuschlagen, bis er auf festes Material stößt.

Aber nun ist das Loch so groß geworden, daß der feste Rand weitab von seiner Pyramide liegt. Er steigt herunter, flucht leise vor sich hin und bringt das Gerumpel Stück für Stück in eine neue Position.

Obenauf legt er den Kasten der Klimaanlage. Während er wieder hinaufklettert, fühlt er kal-46

ten Schweiß seinen Rücken herunterrinnen. Wenn er nicht aus diesem Loch herauskommt, könnte er hier glatt verhungern, bevor ihn jemand findet jemand, der nicht verrückt ist. Aber zu verhungern wäre immer noch besser als das, was er von einigen der Verrückten zu erwarten hatte, wenn sie ihn als unerwünschten Besucher betrachteten. Zwar kann er jetzt den Rand der Öffnung erreichen, aber der Winkel ist noch immer ungünstig, und so beschließt er, noch etwas zu suchen, das er auf die Pyramide legen kann. In der Ecke, in der er das geheimnisvolle Kästchen gefunden hat, liegt auch ein feuchtgewordener Karton. Als er ihn aufhebt, löst er sich in seinen Händen auf. Er riecht muffig wie nach modrigen Pilzen. Er läßt das Zeug fallen und macht einen Schritt zurück. Es ekelt ihn, er wischt sich die Hände an seiner Jeans ab.

»Verdammt, was ist das?«

Der Gegenstand liegt auf dem Boden in einer Pfütze aus silbrigem Schlamm, der nach verdorbenem Weinessig riecht. Es ist vielleicht ein Meter lang und sieht aus wie das Bein eines Rieseninsekts. Mit einer Chitinschicht, mehreren Gelenken und einem Paar Greifzangen am Ende. Kurz hinter den Zangen spannt sich ein metallenes Band um das Bein, und an dem Band befindet sich ein kreisrunder Gegenstand, der ein wenig einem Chronometer ähnelt. Obwohl Little Joe nie ein College von innen gesehen hat, weiß er genug über die Welt, in der er lebt, um zu erkennen, daß dieses Bein zu keiner Spezies gehört, von der man in der Republik oder in den angrenzenden Imperien je gehört hat. In seiner Phantasie sieht er drei Meter große Insektenwesen vor sich, die aus den düsteren Tiefen des Planeten hervorkrabbeln. Bestien, die seit Urzeiten voller Mordlust dort lauern. Als Junge begeisterte sich Little Joe an Horrorfilmen der schlechtesten Sorte; damals fand er das lustig. Aber das würde er jetzt nicht mehr so sehen.

Mit einem erstickten Aufschrei springt er auf die Müllpyramide, bekommt den Rand der Öffnung zu fassen und bau-47

melt jetzt hin und her. Verzweifelt versucht er, mit den Füßen an der Wand der Grube einen Halt zu finden. Seine Arme schmerzen, er ist am Ende seiner Kraft. Schweiß brennt in seinen Augen. Schon geben die mürben Planken unter seinen zerschundenen Fingern nach, und hinter sich hört er ein Rascheln, ein Scharren: Insektenbeine, das muß es sein. Sie kommen, aus der Tiefe kommen sie herauf gekrochen. Er nimmt all seine Kräfte zusammen und zieht sich in die Höhe, schon ist er halb aus dem Loch, um Kopf und Schultern bläst die frische Nachtluft; doch die Planken geben nach, und länger kann er sich nicht mehr festhalten. Jammernd, fast in Tränen, fällt er zurück. Als er über die Schulter blickt, sieht er die Augen einer Ratte im Licht der Taschenlampe rot aufleuchten.

Noch ein Versuch, noch ein Klimmzug - und dieses Mal packt etwas von oben seine Handgelenke.

Little Joe schreit laut auf.

»Ich bin' doch!« Es ist Sallys Stimme, und sie macht sich lustig über seine Angst. »Ich und Ibrahim ...

wir haben dich gesehen und wollen dir helfen. Also halt dich fest! ... Halt dich an mir fest, du Esel, und nicht an diesem dämlichen Brett und dem andern Zeug!«

Keuchend tut Little Joe, was man ihm sagt. Eine große weiße Frau kniet am Rand des Lochs und streckt ihm ihre Arme entgegen, kräftige Arme, denn sie ist eine Karateka. Sie sagt, er solle ihre Arme oberhalb der Ellbogen greifen. Dieses Mal hat er besseren Halt. Mit den Füßen scharrt er an der Wand, und Sally zieht ihn hoch. Hinter ihr hockt Ibrahim, der ihre Waden fest gegen den Boden preßt, damit sie nicht fällt.

»Scheiße«, sagt Little Joe. »Das ist das einzig richtige Wort: Scheiße!!«

»Wie, zum Teufel, bist du da reingekommen?« Sally läßt ihn los und bleibt noch einen Augenblick sitzen, um sich den Staub von ihrer lavendelfarbenen Bluse zu klopfen. »Hat dich die Polizeipatrouille da reingescheucht?«

»Diese Bretter haben nachgegeben, Mensch, als ich vor den Bullen weggerannt bin. Da unten muß mal jemand gewohnt haben.«

»Wir haben dich gesucht«, sagt Ibrahim. »Und dann kam dein Kopf hier aus dem Loch geschossen, wie ein Sandwurm, der Insekten fängt. Wir dachten, daß du in Schwierigkeiten bist.«

»Ach ja, eine brillante Idee. Daß du darauf überhaupt gekommen bist!«

»Wir können dich ja wieder reinwerfen, wenn dir irgendwas nicht paßt.«

»Ihr zwei Blödmänner, haltet bloß eure Klappe!« Sally ist ärgerlich. »Hast du die Kohle?«

»Sicher. In republikanischen Zwanzigern, wie du es wolltest. Wo ist der Stoff?«

»Komm mit. Ich habe auch eine Thermoskanne Kaffe. Du siehst aus, als könntest du welchen brauchen.«

»Allah sei mit dir.«

»Danke! Ich brauche selber eine Tasse. War wirklich eine blöde Nacht. Als ich unterwegs war, um den Stoff zu besorgen, da begegnete mir doch ein Kerl, ein Blanco, der sich mitten auf der Straße die Kleider vom Leib reißt! Er hatte darunter noch Hemd und Hose an, und es sah aus, als wollte er das Zeug in den öffentlichen Recyclingbehälter stopfen.«

Little Joe nickt zustimmend. Er überlegt, ob er ihnen von dem Kästchen mit der fremden Schrift und dem Insektenbein erzählen soll, aber er kann sich nicht dazu entschließen. Seit drei Jahren schon macht er Geschäfte mit Sally Pharis und Ibrahim, in Drogen - aber in Polar City zahlt es sich nicht aus, zuviel zu reden, außer natürlich, wenn man dafür bezahlt wird.

Der Autopsiebericht über Imbeth ka Gren ist einfach und klar: Der Carli war bei bester Gesundheit; er hatte nicht die geringste Spur irgendwelcher Drogen in seinem Blut, nicht
48

Other books

Lover Awakened by J. R. Ward
Temptation's Kiss by Michelle Zink
Silver City Massacre by Charles G West
A Cool Head by Rankin, Ian
Through Her Eyes by Amber Morgan
Wild Ginger by Anchee Min
Things We Fear by Glenn Rolfe