Polar City Blues (9 page)

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Authors: Katharine Kerr

BOOK: Polar City Blues
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Vergeblich versucht er dieses doppelte Bewußtsein wiederzufinden, es geht nicht. Das Signal ist im Rauschen untergegangen.

Im Zentrum des Rattennests liegen die Überreste einer Startbahn, rissig und uneben, die sich wie eine graue Narbe durch diese Anhäufung von Ruinen und Müll zieht. Die Hitze des späten Vormittags läßt die Luft über dem Beton zittern. Carol stoppt neben einem rostigen Laternenmast. Lacey seufzt; es klingt, als wäre sie erleichtert.

»Das ist mein Stammplatz«, sagt Carol. »Man muß feste Gewohnheiten entwickeln, wenn man mit solchen Leuten zu tun hat. Überraschungen verkraften sie nicht - und einige können sich ganz einfach nicht an dich erinnern, wenn du was Ungewohntes tust.«

Mulligans anfängliche Erleichterung ist schon verflogen. Wie immer bedrückt ihn die Gegenwart seelisch kranker Menschen er spürt ihr Leid ganz unmittelbar; ihre Schmerzen schneiden auch in sein Herz. Als Carol und Lacey aussteigen, bleibt er in der Maschine hocken und wünscht sich sehnlich, statt Baseballspieler ein Karateka zu sein.

»He, Mulligan!« fährt Carol ihn an. »Bist du eingeschlafen? Kannst du mal die Schutzumhänge reichen?«

Er reicht Lacey den blauen Sonnenschutz, den sie beim Start neben ihm verstaut hat, und findet nach einigem Suchen auch den von Carol, weiß mit einem roten Kreuz, an dem man Ärzte und Sanitäter erkennt. Er reicht ihr auch die Arzttasche, dann zögert er wieder, schaut zu, wie sie sich die festen Helme in der Mitte der Reflektorplane über den Kopf ziehen.

»Ich hab' auch einen für dich mitgenommen«, sagte Lacey. »Er muß genau neben dir liegen.«

Nun war der Augenblick gekommen. Er könnte sagen, daß er mit dieser verrückten Sache nichts zu tun haben wolle, daß er im Transporter bleibe, und zwar bei geschlossenen Türen aber Lacey mustert ihn prüfend durch die Sicht-76

platte ihres Helms. Wenn er jetzt kneift, wird sie ihm das ewig übelnehmen.

»Bin schon unterwegs. Wenn ich mich erst herausgefädelt hätte ... verdammt eng hier.«

»Du kannst auf dem Rückweg meinetwegen vorn sitzen.«

»Nein, so hab' ich's nicht gemeint. Laß nur.«

»Nun laßt das Getue und beeilt euch!« sagt Carol. »Ich will endlich die Kiste abschließen. Sonst stehlen sie mir die Medikamente. Einige von diesen Typen würden alles schlucken, wenn es nur wie eine Pille aussieht.«

Mulligan springt mit einem Satz heraus und zieht den Sonnenschutz hinter sich her. Er findet die Helmöffnung unter dem endlosen, bauschigen Gewebe und schlüpft rasch hinein. Das war ratsam, denn Hargars Sonne kann auf der bloßen Haut schon nach wenigen Minuten Blasen erzeugen. Als er die weiße Reflektorplane aufgefaltet und bis zu den Füßen ausgebreitet hat, drückt er auf den Schalter innen am Helm, und sobald die Sonnenzellen aufgeladen sind, die in langen Reihen auf der Rückseite des Umhangs angebracht sind, beginnt der Ventilator zu laufen, der die Luft im Helm zirkulieren läßt.

Es dauert noch ein bißchen, bis die Sichtscheibe wieder klar ist, die der Schweiß auf seiner Haut hat beschlagen lassen.

»Nun komm endlich, Mulligan«, keift Carol. »Willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Laß ihn doch in Frieden!« Lacey ist etwas verärgert.

Mulligan freut sich, daß sie ihn in Schutz nimmt, dann erst kommt ihm der Gedanke, daß er ja eigentlich sich selber zur Wehr setzen müßte. Stärker noch als sonst fühlt er sich als Laceys kleines Hündchen. Aber er folgt ihnen jetzt die holprige Betonbahn entlang, die wie ein Pfeil aus dem Herz des Rattennest zu ragen scheint.

»Irgend jemand hat sicher gesehen, daß wir angekommen sind«, sagt Carol. »Die Leute hier sind immer auf der Hut, sie stellt Wachen auf, und einige von ihnen kennen mich sogar. Es gibt hier eine Frau, Del heißt sie, mit einem Baby,

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das keinen Namen hat. Gewöhnlich taucht sie bei jedem meiner Besuche auf. Nicht einmal Paranoia kommt gegen Mutterliebe an, könnte man meinen.«

»Ein Baby?« Lacey ist schockiert. »Wird es gesund sein?«

»Wer weiß ... Im Moment ist es noch gesund. Ich glaube, wenn die Mutter der Meinung wäre, daß das Kind hier nicht gut aufgehoben ist, dann würde sie es mir in die Stadt mitgeben.«

»Ich dachte nicht an diese Art von Gesundheit. Ich meine, wie es sich geistig entwickeln wird, wenn es hier aufwächst.«

Carol zuckt die Achseln, daß die Reflektorfolie raschelt. Darauf hat auch sie keine Antwort.

»Wer ist der Vater?« fragt Mulligan.

»So ein riesiger Blanco, den sie hier John Hancock nennen. Das ist natürlich ein Witz. Aber ich würde trotzdem nicht über ihn lachen. Er sieht aus, als könnte er einem mit einer Hand den Kopf abreißen.«

»Du meine Güte«, sagt Lacey. »Und wovon leben diese Leute überhaupt?«

»Ganz genau weiß man es nicht. Sie fangen Ratten. Sie machen auch Geschäfte mit den Leuten im Krater. Es finden sich immer wieder antike Gegenstände in den Ruinen, die recht wertvoll sind.

Manche bauen in den Schluchten, in denen es noch etwas Wasser gibt, Obst und Gemüse an. Aber das alles reicht eigentlich noch nicht. Mir scheint, daß sie allerlei kleine Geheimnisse haben. Trotzdem habe ich den Stadtrat dazu gebracht, daß man ihnen Vitamin- und Mineraltabletten spendiert.«

»Ist sicher schwerer als Kinderkriegen«, murmelt Lacey.

»Kannst du mir glauben. Politiker sind ein egoistisches Pack. Doch schließlich brauchte ich jemanden zum Tyrannisieren. Darum hab' ich die Sache angefangen. Wenn man erst mal pensioniert ist und keine Untergebenen mehr um sich hat ... Ich habe mich entsetzlich gelangweilt.«

Mulligan hört Carol, die so ganz selbstverständlich, ganz sachlich von ihrer Arbeit spricht, eigentlich einer Mission, die sie aus freien Stücken auf sich genommen hat: diese Irren am Leben zu erhalten, für ihre Gesundheit zu sorgen, so gut es eben geht.

Er hat plötzlich Schuldgefühle. Was hat er denn je für einen anderen Menschen getan ... Am liebsten würde er jetzt wieder anfangen zu trinken, besonders, da er unter dem Sonnenschutz schwitzt und sein Kater zurückzukehren scheint. Er ist jetzt ein ganzes Stück hinter den anderen zurück, er ist immer langsamer geworden, während sie sich vorarbeiten, vorbei an zerborstenen Rohren, Gleiterwracks, Kisten und Plastikteilen und natürlich immer wieder auch an frischen Abfallhaufen.

Ganz unvermittelt wird ihm bewußt, daß er die beiden Frauen nicht mehr sehen kann, daß er ganz allein ist. Außerdem ist er auch nicht mehr im Rattennest. Er wandert durch ein Gebirge, wie er es noch nie im Leben gesehen hat. Große grüne Pflanzen bedecken die Hänge, das müssen diese Bäume sein, die er von Holos von der alten Erde kennt. Weit unter ihm in einer Schlucht windet sich ein silberner Bach durch sein felsiges Bett. Die Gipfel sind von einem weißen Zeug bedeckt, das wahrscheinlich Schnee ist. Und dieses merkwürdige Sonnenlicht, gelblich, fast farblos. Er macht einen Schritt zurück von dem Abgrund und hört, wie sich jemand hinter ihm höflich räuspert. Er dreht sich um und sieht einen alten Mann, der sich auf einen langen Krummstab stützt.

»Buenos dias«, sagt Mulligan, denn sonst fällt ihm nichts ein. »Schöne Aussicht hier, nicht wahr?«

Der alte Mann lächelt, dann verschwindet er. Erst wird er durchsichtig, dann verflüchtigt sich immer mehr von seinem Körper. Jetzt bemerkt Mulligan, daß das Ganze eine Halluzination ist.

»Verfluchter Mist, Lacey braucht mich vielleicht. Ich muß damit aufhören!«

Aber die Vision ist hartnäckig, und so beschließt Mulligan, erst einmal den Abgrund hinter sich zu lassen und tal-78

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wärts zu steigen. Je weiter er geht, desto schneller sinkt die Sonne, bis er schließlich zu einem großen flachen Gelände oder einer Wiese kommt, die in dem Purpurlicht der Dämmerung kaum zu übersehen ist. Aber mitten hindurch fließt ein Fluß. Klares Wasser, das über die Felsen plätschert, ein angenehmes Geräusch. Fast ehrfürchtig kniet er nieder und schöpft sich eine Handvoll Wasser aus dem Fluß. Er trinkt. Es ist kalt, schmeckt frisch und sauber. Trotzdem weiß er sofort, daß er das Trinken hätte lassen sollen jetzt ist er dazu verdammt, für alle Ewigkeit hier weiterzuwandern, unter den wachsamen Augen der alten Frau, die nun plötzlich erschienen ist, sich neben ihn kniet und ihm über das Gesicht streicht. Dann gibt sie ihm noch mehr zu trinken; aus einer gesprungenen alten Tasse flößt sie ihm eine ranzig schmeckende Flüssigkeit ein.

»Er kommt zu sich, Dr. Carol, sehen Sie? Er kommt zu sich. Die alte Hexe weiß, wie man das macht.«

Alt sieht diese Frau tatsächlich aus; das Gesicht zerknittert wie eine alte Papiertüte, und mit Säcken unter den Augen, so groß wie Nüsse des Dornenbaums, und kaum weniger schwarz ist ihre Haut. Das graue Haar hat sie sich in einem dünnen, schmuddeligen Zopf um den Kopf gewickelt. Hinter ihrer Schulter kann er Carol erkennen, die besorgt, mit einer Spritze in der Hand, wartet.

»Lacey?« flüstert er.

»Hier bin ich.«

Jetzt bemerkt er, daß sie direkt neben ihm auf dem unebenen, nicht sehr angenehm riechenden Berg aus Kissen sitzt und seine Hand hält. Daß sie seine Hand hält, daß echte Sorge in ihrem Gesicht zu lesen ist, dafür allein hat sich dieser gräßliche Ausflug zum Rattennest gelohnt.

»Mulligan, bist du okay?« fragt Carol. »Ich kann dir eine Spritze geben, wenn es nötig ist.«

»Er braucht Ihre Spritze nicht, Doktor Carol«, sagt Meg und saugt schmatzend an ihren Zahnstümpfen,

»ich hab' ihn zurückgeholt.«

»Ja, genau.« Mulligan versucht sich aufzurichtendes macht keine Schwierigkeiten. »Sie hat recht.«

»Ich mußte es tun, mein Junge. Hab' dich mit dem Kartenspiel eingefangen. Tut mir leid, war nicht meine Absicht. Ich war nur auf der Suche, das ist alles.«

Lacey und Carol tauschen einen wissenden Blick aus.

»Was für Karten?« fragt Mulligan. »Kann ich sie sehen?«

»Ob du sie sehen kannst?« Meg kichert. Die Frage macht ihr unerhörten Spaß. »Ich kann sie holen, ohne Frage, aber ob du sie sehen kannst das weiß ich nicht.«

Als sie aufgestanden ist und davonschlurft, kann Mulligan sehen, daß sie in einer Hütte sind, die aus einer Vertiefung im Boden, nicht mehr als ein Meter, besteht, über der man ein Dach aus Schrotteilen und Plastbetonplatten errichtet hat. Die Polster, auf denen er sitzt, stammen offensichtlich aus ausrangierten Gleitern. Eine Hälfte einer Blechtonne dient als Herd. Megs Kleidung besteht aus mehreren Schichten übereinander gelegter Stofflappen, alle ziemlich schmutzig. Sie öffnet einen löchrigen Karton, während Lacey und Carol mit wachsender Verwunderung zusehen.

»Wenn wir erst in der Stadt sind«, flüstert Carol, »werd' ich dich mal genau unter die Lupe nehmen, mein Lieber.«

»Bleib mir vom Leib!« Mulligan ist überrascht, wie gut es tut, zu widersprechen. »Hör bloß auf damit!«

Bevor noch Carol ihn angiften kann, ist Meg zurück. Obwohl das kleine Bündel, das sie trägt, in ein schmutziges, schon mürbe gewordenes Unterhemd eingewickelt ist, kann Mulligan sehen - im übertragenen Sinn -, daß von dem Inhalt eine starke Kraft ausstrahlt, einem Lichtenstein vergleichbar.

Als er danach greifen will, reißt Meg es zurück.

»Du faßt es nicht an, Weißer, ich sagte, du kannst es
sehen.
Von Anfassen habe ich nichts gesagt.«

»Entschuldigung, tut mir wirklich leid. Natürlich faß ich es nicht an.«

Mit einem zufriedenen Grunzen kniet sie sich wieder zu

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ihm hin und öffnet das Bündel; zu sehen ist etwas wie ein Kartenspiel, fettig und abgegriffen.

»Karo«, sagt Meg, »dieses Spiel ist uralt und heißt Karo. Es kommt von der alten Erde.«

Mit raschen Bewegungen, wie ein Profi, mischt sie die Karten, dann macht sie wieder einen ordentlichen Stapel und legt ihn auf das Stück Sackleinwand, das in der Hütte als Teppich dient.

»Also, du kannst abheben, wenn du willst«, sagt sie mit einem schalkhaften Augenzwinkern zu Mulligan, »aber ungefähr in der Mitte!«

Widerwillig läßt er Laceys Hand los. Als er nach dem Kartenspiel greift, zittern seine Hände, als fürchte er, daß er sich daran verbrennen könnte. Mit einem energischen Kopfschütteln rafft er sich auf und teilt den Spiegel; Meg kichert wieder. Dann dreht sie den oberen Stapel um und zeigt ihm die Karte, die nichts anderes darstellt als seine Vision: ein hellhaariger junger Mann am Rand eines Abgrunds im Hochgebirge.

»Aber da war kein Hund bei mir«, sagt Mulligan und zeigt auf etwas, das aussieht wie ein Spaniel, fast untergegangen in einem Fettfleck.

»Nein? Bist du sicher, mein Junge?«

Und jetzt wird Mulligan klar, daß er selbst der Hund ist, zumindest hat er diesen Gedanken gehabt, kurz bevor die Vision begann.

»Du hast recht. Er war da.«

»Dachte ich mir.«

Lacey und Carol starren sich an, es ist nicht nur Verwirrung - Mulligan wird klar, daß sie Angst haben.

Er hat keine Angst, und das macht ihn stolz. Meg legt die Karten wieder zusammen und verteilt sie dann einzeln auf vier Stapel, ohne sie aufzudecken. Die schmutzigen Karten rascheln aneinander. Als sie fertig ist, deckt sie die oberste Karte auf jedem Stapel auf, von rechts nach links. Oben auf dem zweiten Stapel ist wieder der hellhaarige junge Mann, aber dies-82

mal reitet er auf einem Pferd am Rand einer riesigen Wasserfläche ein Meer, vermutet Mulligan.

»Das bist du.« Meg legt ihren knochigen Finger auf den Reiter. »Du hast immer Ärger mit der Liebe, hab' ich recht?« Als nächstes zeigt sie auf die Karte rechts daneben, zehn lange Stäbe, die sich kreuzen. »Hast es nie zu etwas gebracht, nicht wahr? Hattest immer schon verloren, bevor das Spiel begann.« Links von dem blonden Reiter ist eine ganz besondere Karte zu sehen: ein ziegenköpfiger Mann, auf einem Stein hockend, mit einem nackten Menschenpaar vor sich. Meg zögert, dann wendet sie sich rasch dem vierten Stapel zu. Fünf antike Münzen sind auf der Karte zu sehen. »Du wirst nie Geld haben, es sei denn, du heiratest nach Geld.«

Als sie die Karten zusammenschieben möchte, hält Mulligan sie am Handgelenk fest und läßt nicht los, selbst als sie zu schimpfen beginnt und sich loszureißen versucht.

»Was ist das für ein Kerl auf dem Stein, Meg? Du mußt es mir sagen.«

»Ich sag's nicht. Laß mich los, Weißer! Dr. Carol, er soll mich loslassen!«

Als Carol einen Schritt auf sie zu macht, steht Lacey hastig auf und stellt sich ihr in den Weg. Drohend schüttelt sie den Kopf. Mulligan zerrt an Megs Arm.

»Du mußt es mir sagen!«

»Es ist der Teufel. Da - jetzt ist es gesagt, und wir werden es alle büßen müssen.« Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, sie beugt sich vor zu Mulligan, ist wieder ganz ruhig und freundlich, eine Komplizin.

»Sie haben ihn umgebracht, mußt du wissen. Vor zwei Tagen war es. John Hancock, wilder Mann und alter Veteran. Sie haben gesehen, wie er dahergeschlichen kam, da haben sie ihn getötet. Den Schädel haben sie ihm eingeschlagen, und es hat zum Himmel gestunken, sagte mir wilder Mann. Haben ihn begraben, ja. Den Teufel begraben!« Sie lacht. »Ist das nicht ein guter Witz, Weißer? Den Teufel begraben?«

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